
Warum KI kein Tool sondern ein Kulturbruch ist - mit Benjamin Ferreau
Ein Gespräch zwischen Maximilian Hahnenkamp (Scavenger AI) und Benjamin Ferreau (Director Corporate Innovation, Zertus GmbH)
Wenn jemand das Spannungsfeld zwischen Konzern, Familienunternehmen, Start-up und Beratung kennt, dann ist es Benjamin Ferreau. Vom Maschinenraum einer Druckereigruppe über ein eigenes AI-Startup bis zur Leitung der Corporate Innovation bei der Zertus GmbH – Ferreau hat die Digitalisierung in Deutschland aus allen Blickwinkeln erlebt. Im Gespräch mit Maximilian Hahnenkamp, Co-Founder von Scavenger AI, spricht er über den Status quo von KI in Deutschland, Führungsverantwortung im Wandel und warum die größten Hürden selten technologischer Natur sind.
Vom Drucksaal zur Datenintelligenz
„Ich habe gelernt, den Status quo als Problem zu sehen“, sagt Ferreau gleich zu Beginn. Eine Haltung, die ihn geprägt hat – angefangen in einer der größten Druckereigruppen Deutschlands, wo er die Unternehmensentwicklung leitete.
Schon damals ging es darum, Geschäftsmodelle zu hinterfragen und neu zu denken. „Heute würde man das wohl Transformation nennen“, lacht er. Früh begann er, mit Daten zu arbeiten – etwa bei der Frage, welche Produkte im Printkatalog wo platziert werden sollten. „Das waren erste algorithmische Ansätze, lange bevor man sie KI nannte.“
Später gründete er ein eigenes AI-Startup, das algorithmische Produktempfehlungen für den E-Commerce entwickelte. „Wir waren ehrlich gesagt zu früh dran. KI war damals noch kein Verkaufsargument – wir mussten den Begriff sogar aus unseren Pitches streichen, weil keiner verstanden hat, was wir machen.“
KI ist mehr als Technologie
Heute leitet Ferreau den Bereich Corporate Innovation bei Zertus, einer Unternehmensgruppe mit Marken wie Dextro Energy, Mondamin oder Pulmoll. Dort beschäftigt er sich mit neuen Geschäftsmodellen, Markenstrategien und – natürlich – Künstlicher Intelligenz.
„Ich sehe KI nicht als reine Technologie“, betont er. „Wenn wir KI ernsthaft betrachten, dann geht es um neue Denkweisen, Arbeitsweisen, Organisationsstrukturen. Es ist nicht nur Software – es ist ein neues Betriebssystem für Unternehmen.“
Für ihn ist klar: Der Einsatz von KI verändert nicht nur Tools, sondern das gesamte Geschäftsmodell. „Wir stehen nicht vor einer technischen Revolution, sondern vor einer Neuordnung der Wirtschaft. Es ist wie der Sprung vom Agrar- ins Industriezeitalter – nur diesmal vom Industrie- ins Informationszeitalter.“
Warum viele KI-Projekte scheitern
Laut Ferreau liegt der Grund für gescheiterte KI-Initiativen selten an der Technologie selbst. „Viele denken: Wir kaufen jetzt ein Tool, dann haben wir KI. Aber das ist eine Illusion.“
Er beschreibt KI als Dreiklang aus Organisation, Prozessen und Technologie. Wenn Unternehmen nur einen Teil davon anpassen, bleibt der Effekt aus. „Ich kann nicht einfach meine bestehenden Prozesse nehmen, ein KI-Tool drunterlegen und glauben, dass alles besser wird. Ich muss den Prozess komplett neu denken.“
Auch fehlende Führung sei ein zentrales Problem: „KI ist eine Führungsaufgabe. Wenn ich als Management nicht verstehe, wo ich hinwill, kann ich auch niemanden mitnehmen.“
Leadership heißt: den Wandel erklären
Gerade in mittelständischen Unternehmen beobachtet Ferreau oft Ängste, sich selbst „wegzurationalisieren“. Doch er hält dagegen: „Ich habe mich mein ganzes Leben selbst disruptiert. Veränderung ist nicht Verlust, sondern Wachstum.“
Seine Empfehlung an Führungskräfte: „Man muss eine Vision haben und sie transparent teilen. Es reicht nicht, Tools einzuführen. Man muss zeigen, wohin die Reise geht, und den Menschen die Angst nehmen.“
Er zieht einen Vergleich: „Als das Industriezeitalter kam, arbeiteten 80 % der Menschen in der Landwirtschaft. Danach waren es 20 %. Das war ein schmerzhafter Wandel, aber er hat neue Felder geschaffen. Heute ist es dasselbe – nur schneller.“
Die „Low-Hanging Fruits“ der KI
Was sind für ihn die besten Startpunkte für mittelständische Unternehmen?
Ferreau nennt drei Felder:
Business Intelligence und Reporting:
„Statt Excel-Listen zu wälzen, sprechen wir künftig mit unserem Datenassistenten. Wir fragen in Echtzeit: Wie waren unsere Absatzzahlen gestern? – und bekommen sofort Antwort und Visualisierung.“Marketing & Content:
„Texte, Bilder, Kampagnen – KI kann heute kreative Prozesse unterstützen, aber nur, wenn Menschen wissen, wie sie mit ihr sprechen müssen.“Produktionsoptimierung:
„In der Fertigung kann KI in Kombination mit Robotics enorme Effizienz schaffen – aber das ist kein einfacher Einstieg, sondern Kapital-intensiv. Deshalb lieber dort starten, wo Daten bereits vorhanden sind.“
Deutschland zwischen Potenzial und Paralyse
Trotz aller Chancen sieht Ferreau auch ein Problem: die KI-Müdigkeit.
„Jeder zweite nennt sich inzwischen KI-Experte, jedes Unternehmen behauptet, KI zu haben. Aber wenn sich am Ende nichts verändert, verlieren wir Glaubwürdigkeit. Dann heißt es wieder: ‚Hilft ja eh nix.‘“
Er warnt vor falschen Erwartungen: „KI ist kein Plug-and-Play. Es wird Jahre dauern, bis wir die organisatorischen, kulturellen und technologischen Grundlagen wirklich geschaffen haben.“
Europa, Eigenständigkeit und der Mut zur Nutzung
Zum Schluss spricht Ferreau über Europas Rolle: „Natürlich dominieren derzeit US-Player wie OpenAI oder Google. Aber das heißt nicht, dass wir uns verstecken sollten. Wir müssen einfach nutzen, was da ist – und gleichzeitig eigene Lösungen wie Aleph Alpha oder Mistral fördern.“
Seine Haltung ist pragmatisch: „Wenn ich mit ausländischen Modellen meine Produktivität steigern kann, dann tue ich das. Entweder ich mache es selbst oder ich nutze die Synergien anderer. Hauptsache, wir bewegen uns.“
„Wir müssen verstehen, was KI ist“
Was wäre also seine Wunsch-Schlagzeile in zehn Jahren?
„Deutschland hat verstanden, was KI ist.“
Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Denn, so Ferreau: „Wenn wir das wirklich begreifen – dass KI mehr ist als Technologie, dass sie Organisation, Menschen und Denken verändert – dann haben wir den wichtigsten Schritt geschafft.“