
Warum der Mittelstand ideal für KI positioniert ist und wie man die Use-Cases auch auf die Straße bekommt - mit Dr. Marius Biederbach
Ein Gespräch mit Dr. Marius Biederbach, Digital Transformation Manager & Lead AI, und Maximilian Hahnenkamp, Co-Founder von Scavenger AI
Künstliche Intelligenz ist im deutschen Mittelstand längst kein Zukunftsthema mehr. Viele Unternehmen testen erste Use Cases, bauen interne Strukturen auf und suchen Wege, wie KI echten Mehrwert in Prozessen, Produkten und Entscheidungen schaffen kann. Genau darüber sprechen Dr. Marius Biederbach und Maximilian Hahnenkamp in ihrem Podcast – praxisnah, ungeschönt und mit klarem Blick auf das, was für Unternehmen wirklich zählt: Wirkung statt Vision, Impact statt Strategie-Folie.
Vom promovierten Forscher zum AI-Verantwortlichen im Mittelstand
Marius Biederbach kommt ursprünglich aus der Betriebswirtschaft, wechselte früh zur Wirtschaftsinformatik und beschäftigte sich in Forschung und Promotion intensiv mit digitalen Ökosystemen:
Wie verändern Technologien wie KI etablierte Industrien? Wie reagieren traditionelle Unternehmen, wenn digitale Player – von Start-ups bis hin zu Google – in ihre Wertschöpfung eintreten?
Sein zentrales Forschungsergebnis:
Digitale Technologien bedrohen etablierte Unternehmen nicht zwingend – sie können deren Position sogar stärken, wenn diese Innovationskooperationen eingehen und neue Technologien aktiv integrieren.
Mit diesem Hintergrund wechselte Biederbach in die Praxis: als Digital Transformation Manager und Lead AI bei der international tätigen Stern-Wywiol Gruppe.
Wer ist die Stern-Wywiol Gruppe – und was macht Biederbach dort?
Die Stern-Wywiol Gruppe ist ein globaler Produzent von Food- und Feed-Inhaltsstoffen mit 13 spezialisierten Business Units – beispielsweise im Bereich Enzymmischungen, die dafür sorgen, dass Brot weltweit konsistent gelingt.
In seiner Rolle baut Biederbach die Brücke zwischen IT und Business Units:
Er verantwortet die KI-Strategie,
identifiziert und priorisiert Use Cases,
sorgt für den Wissenstransfer,
und stellt sicher, dass neue Technologien verantwortungsvoll und skalierbar eingeführt werden.
Das Team ist in der IT verankert – bewusst. Denn laut Biederbach sind KI und digitale Transformation zunächst technische Themen, die jedoch nur in enger Abstimmung mit den Fachbereichen Wirkung entfalten. Diese Verbindung sei einer der Schlüssel zum Erfolg.
Wie steht der Mittelstand beim Thema KI wirklich da?
Der Eindruck vieler: Der Mittelstand sei langsam, zögerlich oder gar rückständig.
Biederbach widerspricht:
„Der Mittelstand ist schneller, pragmatischer und umsetzungsorientierter, als viele glauben. Die größte Hürde ist nicht das Mindset – sondern die Daten.“
Viele mittelständische Unternehmen verfügen über klare Verantwortlichkeiten, kurze Entscheidungswege und einen hohen Effizienzdruck. Das begünstigt schnelle Pilotprojekte und pragmatische Experimente.
Gleichzeitig erkennt Biederbach drei zentrale Herausforderungen:
Datenqualität und -verfügbarkeit:
Ohne saubere, zugängliche Daten bleibt jedes KI-Projekt Stückwerk.Strukturen und Verantwortlichkeiten:
Wer führt KI ein – IT, Fachbereich oder ein hybrides Team?IT-Security & Datenschutz:
Besonders im Umgang mit sensiblen Produktions- und Rezepturdaten.
Vom Denken ins Machen: Warum „AI Impact" wichtiger ist als „AI Strategie"
Während viele Unternehmen komplexe Drei-Jahres-Roadmaps entwickeln, setzt Biederbach auf das Gegenteil:
„Starten, lernen und währenddessen die Strukturen entwickeln – nicht andersherum.“
Er warnt davor, zu lange auf das „perfekte“ Modell, die „perfekte“ Datenbasis oder das „perfekte“ Governance-Dokument zu warten.
Denn: Die Technologie entwickelt sich schneller, als jede Strategie es abbilden kann.
Die größten Fehler beim Start mit KI
Biederbach nennt drei typische Stolpersteine:
Zu lange warten – auf perfekte Daten, perfekte Tools oder perfekte Strategien.
Zu viel Governance vor den ersten Use Cases – Strukturen entstehen am besten durch Erfahrung.
KI als IT-Thema oder reines Fachthema zu behandeln – die Lösung liegt in der Mitte: Zusammenarbeit.
Diese Mischung aus Pragmatismus und Struktur sei entscheidend, um echte Wirkung zu erzielen.
Konkrete KI-Anwendungen bei Stern-Wywiol
1. Individuelle interne Chatbots – entwickelt von Mitarbeitern
Mitarbeiter bauen selbst kleine Chatbots, die sie in Prozessen unterstützen – etwa beim Vorbereiten von Daten für SAP-Signavio.
Ein Beispiel dafür, wie KI die Produktivität im Alltag steigert, ohne gleich ein Großprojekt auszulösen.
2. Der „Product Finder“ – ein skalierbarer Use Case
Ein besonders wirkungsstarker Anwendungsfall ist der Product Finder:
Ein zentrales KI-gestütztes Tool, das Produktdaten, Rezepturen, Entwicklungsstände und Kategorisierungen bündelt.
Sales kann Kundenanfragen schneller beantworten,
Produktmanagement erhält Klarheit über Produktvarianten,
F&E profitiert von strukturiertem Know-how.
Einer der größten Effekte: Wissen wird bewahrt, statt in Köpfen zu verschwinden.
Wie misst man den ROI von KI?
Zeitersparnis ist für Biederbach der wichtigste messbare Faktor.
Gesparte Stunden lassen sich in Vollkosten und strategischen Nutzen übersetzen.
Aber mindestens genauso wichtig sei die Qualitätsverbesserung – etwa durch die Sicherung von Know-how oder standardisierte Produktentscheidungen.
Change Management: KI-Ambassadors und KI-Coaches
Technisch sei KI heute selten das Problem. Die Herausforderung liegt im Verstehen:
KI funktioniert probabilistisch, nicht deterministisch.
Sie liefert Wahrscheinlichkeiten, nicht feste Systemantworten.
Um das Wissen flächendeckend aufzubauen, hat die Stern-Wywiol Gruppe ein Netzwerk aus AI Ambassadors und AI Coaches eingeführt.
Sie sitzen in den Fachbereichen, nicht in der IT, und fungieren als lokale Experten, Multiplikatoren und Sparringspartner für Use Cases.
Wie entstehen und skalieren Use Cases?
Anfangs kamen viele Use Cases spontan aus der Organisation. Heute verfolgt das Unternehmen einen strukturierten Ansatz:
Bewerten und priorisieren nach Aufwand & Nutzen
Gemeinsam mit Fachbereichen analysieren
Proaktiv auf Prozesse zugehen und Optimierungen anbieten
Vom reaktiven Ideen-Sammeln geht es hin zum proaktiven Enablement, bei dem KI nicht nur Probleme löst, sondern neue Potenziale im Prozess aufzeigt.
Wie sieht die KI der Zukunft aus?
Biederbach blickt täglich 20 Minuten auf neue Entwicklungen und ist überzeugt:
Wir stehen ganz am Anfang.
LLMs werden performanter und spezialisierter.
Der größte Hebel liegt in der Kombination aus Systemen + Daten + Modellen.
Langfristig wird KI nicht nur Produkte verbessern, sondern ganze Geschäftsmodelle neu formen.
Ein Rat für alle Mittelständler
Auf die Frage nach seinem wichtigsten Tipp antwortet Biederbach ohne Zögern:
„Starten und auf die eigenen Daten schauen. Das ist der Anfang von allem.“