Ein ehrlicher Blick hinter die Kulissen der KI-Politik: Europa zwischen Innovation & Regulierung - mit Polina Khubbeeva

Dec 3, 2025

Maximilian Hahnenkamp

Polina Khubbueva verantwortet beim BDI die industriepolitische Positionierung zu KI und Halbleitern auf deutscher und europäischer Ebene und vertritt damit die Interessen von rund 100.000 Unternehmen und acht Millionen Beschäftigten. Im Gespräch mit Maximilian Hahnenkamp von Scavenger AI spricht sie über die Zukunft der KI-Politik in Europa, den neuen Kurs beim EU AI Act, geopolitische Abhängigkeiten in der Chip-Industrie und die Frage, wie Deutschland und Europa im globalen KI-Wettbewerb bestehen können.

Regulierung vs. Geschwindigkeit der Technologie: Ein strukturelles Spannungsfeld

Zu Beginn wurde die Frage diskutiert, ob politische Prozesse mit der rasanten Entwicklung von KI überhaupt Schritt halten können.
Khubbueva formuliert das klar:

„Die einfache Antwort ist nein.“

Beim ursprünglichen AI Act sei bereits erkennbar gewesen, dass der Versuch, zukünftige technologische Entwicklungen zu antizipieren, an reale Grenzen stößt. Schwellenwerte für generative KI sollten ursprünglich große US-Modelle regulieren, treffen in der Praxis aber oft auch deutsche Industrieunternehmen.

Der AI Act wird derzeit wieder geöffnet – teilweise fundamental. Das Ziel: Rechtssicherheit schaffen.

„Rechtssicherheit ist eine Form von Wettbewerbsfähigkeit.“

Unternehmen benötigen klare Rahmenbedingungen, bevor sie in KI-Anwendungen, Compliance oder sicherheitskritische Prozesse investieren.

Regulierung als Faktor – aber nicht als alleiniger Grund für Innovationsprobleme

Oft wird das Narrativ bedient, Europa sei überreguliert und deshalb innovationsfeindlich.
Khubbueva widerspricht einer vereinfachten Darstellung:

  • Regulatorische Überschneidungen – etwa zwischen AI Act, DSGVO, Maschinenrichtlinie oder Medical Devices Regulation – sind real und können Innovation bremsen.

  • Gleichzeitig existieren strukturelle Herausforderungen, die nichts mit KI-Regulierung zu tun haben:

    • ein fragmentierter Binnenmarkt

    • fehlende Kapitalmarktunion

    • hohe Energiepreise

    • ein komplexes Investitionsumfeld

Unternehmen mit stark regulierten Produkten spüren die Last besonders: längere Markteinführungszeiten, hohe Compliance-Aufwände und Unsicherheit in der Auslegung.

Warum globale KI-Governance kaum realistisch ist

Das Gespräch beleuchtete auch die internationale Perspektive. In den vergangenen Jahren gab es mehrere Initiativen für globale KI-Governance – vom Hiroshima-Prozess bis zum AI Safety Summit in London.

Doch der Kurswechsel der USA und die zunehmend strategische Hinwendung Chinas zur KI-Anwendung erschweren echte internationale Abstimmungen.

„Aktuell kann man sich nur auf sehr grundlegende Dinge einigen.“

Während Europa Governance priorisiert, setzt China stark auf industrielle KI-Anwendung – und investiert gewaltige Summen. Das zeigt sich unter anderem daran, dass China Deutschland bei der Automatisierung von Produktionsanlagen bereits überholt hat.

Europa schwach in der KI-Entwicklung – stark in der KI-Anwendung

Ein zentraler Punkt des Gesprächs war der tatsächliche Status Europas im KI-Bereich:

  • Deutschland: nur 2 % Anteil an der globalen KI-Entwicklung

  • Keine großen Sprachmodell-Hersteller mehr in Deutschland

  • In Europa dominiert ein Akteur: Mistral

Trotzdem besteht enormes Potenzial:

„Deutschland hat eine der stärksten industriellen Basen der Welt.“

Stärken bestehen insbesondere in:

  • Maschinenbau

  • Automotive

  • Energie

  • Chemie

  • Medizintechnik

  • hochwertiger Industriedaten

  • Robotik und Physical AI

  • Forschung und Bildung

Hier könne Europa – und besonders Deutschland – auch künftig global führend sein.

Die Rolle von Sprachmodellen – und warum Europa differenzieren muss

Khubbueva betont, dass Europa nicht zwingend im Rennen um die größten Modelle mithalten muss.
Small und Mid-Sized Language Models seien realistisch, sinnvoll und notwendig, insbesondere für industrierelevante Anwendungsfälle.

Die Herausforderung liegt weniger im technischen Können, sondern in:

  • fehlenden Investitionsvolumina

  • fragmentierter Förderlandschaft

  • mangelnder Skalierung

Europa produziert viele gute Ideen – aber zu wenige, die global skaliert werden.

Regionale Förderung ist wertvoll – Skalierung entscheidet

Im Gespräch wurde klar, dass regionale und nationale Förderprogramme für Startups und Mittelständler extrem wichtig sind.
Doch Khubbueva weist auf ein strukturelles Problem hin:

Förderprogramme erzeugen viele Pilotprojekte, schaffen aber selten skalierbare Ökosysteme.

Ideal wäre:

  • regionale Förderungen für frühe Phasen

  • europäische Instrumente für Skalierung

  • klare industriepolitische Prioritäten

AI Act: Warum die Neuöffnung eine Chance ist

Die Neuverhandlung des AI Acts bietet für die Industrie vor allem eines:

  • mehr Zeit

  • mehr Klarheit

  • bessere Abstimmung mit bestehenden Gesetzen

Der BDI fordert eine Verschiebung von Fristen – ursprünglich 24 Monate, aktuell im Gespräch: 16 Monate.

Besonders wichtig ist das Zusammenspiel zwischen GDPR und AI Act, insbesondere bei der Datennutzung zum Training von KI.

Wo Regulierung tatsächlich hilft

Regulierung ist nicht per se ein Innovationshemmnis.
In Bereichen wie Chemie oder gefährlichen Maschinen schafft sie Sicherheit und klare Prozesse, die wiederum Innovationen begünstigen.

Problematisch wird es, wenn neue Regulierungen doppelte Compliance-Strukturen erzeugen, widersprüchlich sind oder Ressourcen binden, die Unternehmen lieber in KI-Entwicklung oder Cybersicherheit investieren würden.

Halbleiter: Warum Chips, KI und Industriepolitik untrennbar verbunden sind

Khubbueva erklärt eindrücklich, wie fragil und geopolitisch aufgeladen globale Chip-Lieferketten sind.
Der Fall Nexperia zeigte, wie politische Entscheidungen plötzlich ganze Wertschöpfungsketten gefährden können.

„Bei Chips geht es nicht nur um Wirtschaft – es geht um nationale Sicherheit.“

Europa müsse Abhängigkeiten realistisch bewerten:

  • manche Segmente lassen sich sinnvoll in Europa produzieren

  • andere bleiben dauerhaft globalisiert

  • neue Partnerschaften (Indien, Indonesien, Kenia) sind notwendig

Wichtig ist der Fokus auf europäische Stärken – etwa bei Geometrietechnologien oder hochspezialisierten Fertigungsschritten.

Digitale Souveränität braucht eine klare Definition

Khubbueva fordert, den Begriff der „digitalen Souveränität“ endlich präzise zu klären:

  • Was muss wirklich unabhängig sein?

  • Wo reichen Alternativen und Diversifizierung?

  • Wo kann Europa selbst Chokepoints schaffen?

Souveränität dürfe nicht losgelöst von wirtschaftlicher Tragfähigkeit betrachtet werden:

„Souveränität ist nur nachhaltig, wenn sie wirtschaftlich tragfähig ist.“

Wie ein erfolgreiches Europa der Zukunft aussehen kann

Für die nächsten fünf bis zehn Jahre sieht Khubbueva ein Europa, das:

  • den Binnenmarkt stärkt

  • die Kapitalmarktunion vollendet

  • global aktiv Partnerschaften aufbaut

  • seine industrielle Basis nutzt

  • Transformationsprozesse sozial begleitet

Deutschland spiele dabei eine Schlüsselrolle – durch seine Industrie, Forschung und Innovationskraft.

Warum trotzdem Optimismus angebracht ist

Zum Abschluss betont Khubbueva, was sie am meisten positiv stimmt:

  • ambitionierte Startups

  • innovationsgetriebene Unternehmen

  • gemeinsame Positionen von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite

  • industrielle Praxisbeispiele, die KI sinnvoll implementieren

  • gelebte Zusammenarbeit zwischen Betriebsräten, Belegschaften und Technikteams

„Die Vision einer neuen Zukunft wird eigentlich von allen geteilt.“