Die KI-Debatte ist laut. Zu laut, wenn man Robert Sösemann fragt. Der Principal Architect und langjährige Salesforce-MVP ist keiner, der auf jeden neuen Trend euphorisch aufspringt, sondern bewusst wahrnimmt. Seit über 20 Jahren arbeitet er in der Softwareentwicklung – und warnt heute eindringlich davor, dass KI nicht nur Produktivität verstärkt, sondern vor allem eines: Faulheit, Mittelmaß und schlechten Geschmack.
In unserem Podcast spricht Robert offen über den aktuellen KI-Hype, über Agentic AI, über die Zukunft von Softwareteams – und darüber, warum Elitismus in der Softwareentwicklung kein Schimpfwort sein sollte.
Vom Java-Studenten zum unbequemen Mahner für Qualität
Robert Sösemann ist seit über 15 Jahren im Salesforce-Ökosystem aktiv, insgesamt blickt er auf mehr als zwei Jahrzehnte Berufserfahrung zurück. Angefangen im klassischen Java-Umfeld, kam er eher zufällig zu Salesforce – zu einer Zeit, in der agile Methoden wie Scrum und Kanban erstmals echte Bewegung in Kundenprojekte brachten.
Was ihn bekannt gemacht hat, ist kein Hype-Thema, sondern ein unbequemes: Code-Qualität. 2016 portierte Robert den etablierten Java-Code-Analyzer PMD ins Salesforce-Ökosystem – ein Open-Source-Projekt, das ihm Sichtbarkeit, Anerkennung und auch Widerstand einbrachte.
„Es gibt Leute, die lieben mich dafür – und Leute, die mich hassen. Ich polarisiere. Und das ist okay.“
Wo stehen wir im KI-Zyklus wirklich?
Robert vergleicht die aktuelle KI-Euphorie mit dem Internet-Boom Ende der 1990er. Auch damals glaubte man, die Welt neu zu erfinden – bevor Ernüchterung einsetzte.
Seine Einschätzung heute:
Wir sind bereits in der Frustphase angekommen. Die Erwartungen waren zu hoch, die Realität ist komplizierter. Aber anders als nach der Dotcom-Blase glaubt Robert nicht an einen langen KI-Winter.
„KI bleibt. Der Zyklus ist schneller. Nach dem Frust kommt der produktive Teil.“
Macht KI Software wirklich schlechter?
Eine provokante Frage – und Roberts Antwort überrascht.
„Code-Qualität hat sich nie wirklich jemandem interessiert. Nicht Business, nicht Entwickler. Und KI ändert das erstmal nicht.“
Was sich aber ändert: der Vergleich. Moderne Sprachmodelle schreiben oft besseren, klareren, verständlicheren Code als viele durchschnittliche Entwickler. Nicht perfekt – aber solide.
Das eigentliche Risiko sieht Robert nicht in unsauberem Code, sondern in Bugs und fehlender Verantwortung. Unternehmen, die KI nutzen, um noch schneller schlechten Code zu produzieren, werden scheitern.
„KI macht gute Entwickler besser – und schlechte überflüssig.“
Craftsmanship ist kein Luxus, sondern Haltung
Für Robert ist Software Craftsmanship keine nostalgische Idee, sondern eine Frage von Stolz und Verantwortung.
„Wer stolz auf seine Arbeit ist, delegiert nicht alles an die KI.“
Craftsmanship bedeutet:
den eigenen Code verstehen
Verantwortung übernehmen
Qualität nicht als Luxus, sondern als Minimum sehen
Seine Prognose ist klar:
Entwickler:innen ohne handwerkliches Selbstverständnis werden ersetzt. Die anderen bleiben – ähnlich wie COBOL-Spezialisten nach dem Jahr-2000-Problem.
Agentic AI: Der echte Paradigmenwechsel
Während viele KI-Anwendungen für Robert reine Spielerei sind, sieht er in Agentic AI den wirklichen Umbruch.
Nicht alles muss deterministisch programmiert sein. Gerade der sogenannte „Glue Code“ – Geschäftslogik, Sonderfälle, Übergänge – kann heute fuzzy, kontextuell und adaptiv gelöst werden.
„Software wird schlanker, flexibler – und näher am Nutzer.“
Agentic AI ermöglicht:
weniger aufgeblähte Software
mehr Einfluss für Anwender
weniger Übersetzungsverluste zwischen Business und IT
Kein kurzfristiger Trend, sondern ein Jahrzehnt-Thema.
Forward-Deployed Engineers: Neuer Name, alte Wahrheit
Auch beim Trend der „Forward-Deployed Engineers“ bleibt Robert nüchtern. Für ihn ist das kein neues Rollenmodell, sondern ein Rebranding dessen, was gute Entwickler schon immer waren: kundennah, technisch stark, kommunikativ.
„Nenn sie wie du willst. Wenn du so jemanden hast: Gib ihm Geld. Viel Geld.“
Diese Profile sind selten – und wertvoller denn je.
AI Slop: Warum Quantität Qualität zerstört
Eines der emotionalsten Themen im Gespräch: AI Slop – die Flut an mittelmäßigem, bedeutungslosem KI-Content.
Robert spart nicht mit Kritik:
mehr schlechte Bücher
mehr schlechte Filme
mehr belanglose Software
„Demokratisierung klingt gut. Aber wenn jeder alles kann, verliert Können an Wert.“
Seine Haltung ist klar elitär – im positiven Sinne:
Nicht jeder muss alles machen. Qualität braucht Hürden.
Open Source als Gegengewicht
Ein Hoffnungsschimmer: Open Source.
Für Robert ist Open Source der Ort, an dem Menschen aus Überzeugung arbeiten – nicht aus Profitinteresse. Gerade in der KI-Welt ist das essenziell, um Transparenz, Kontrolle und Qualität zu bewahren.
„Open Source ist der einzige echte Schutz gegen AI Slop.“
Das Team der Zukunft: kleiner, klüger, ehrlicher
Aus eigener Erfahrung beschreibt Robert, wie moderne KI-Teams funktionieren:
klein statt groß
Generalisten statt Silos
weniger Meetings, weniger Rollen, weniger Overhead
Klassische Rollen wie Product Owner, manuelle QA oder reine Projektmanager verlieren an Bedeutung. Entscheidend sind Menschen, die:
schnell denken
klar kommunizieren
pragmatisch handeln
KI kritisch, aber offen einsetzen
„Die besten Leute mögen ihre Aufgaben oft nicht – und automatisieren sie deshalb.“
Blick nach vorn: Software wird persönlicher, günstiger, radikaler
In den nächsten drei bis fünf Jahren erwartet Robert:
weniger große Software-Pakete
mehr individuell gebaute Lösungen
massiven Umbruch im Arbeitsmarkt für Entwickler
Kurzfristig schmerzhaft. Langfristig produktiv.
„Ich würde meinen Kindern weiterhin Informatik empfehlen – aber mit Fokus auf Denken, nicht auf Tools.“
