Wie das Handelsblatt KI baut ohne seine journalistische DNA zu verlieren - mit Thomas Nowicki

Nov 19, 2025

Maximilian Hahnenkamp

Künstliche Intelligenz verändert die Medienbranche – aber nicht überall gleich. Während manche Redaktionen bereits ganze Artikel automatisiert generieren lassen, verfolgt das Handelsblatt einen anderen, bewusst kontrollierten Weg. Im Gespräch mit Maximilian Hahnenkamp, Co-Founder von Scavenger AI, erklärt Thomas Nowicki, Leiter Cloud & KI der Handelsblatt Media Group, wie das Unternehmen KI in Infrastruktur, Produkte und redaktionelle Prozesse integriert – ohne die journalistische DNA aufs Spiel zu setzen.

Vom Cloud-Builder zum KI-Orchestrator

Als Thomas Nowicki vom Beratungshaus Accenture ins Handelsblatt wechselte, erwartete ihn eine besondere Herausforderung: ein hochreguliertes, historisch gewachsenes Medienhaus technologisch in die Zukunft zu führen.

„Ich wollte sehen, was passiert, wenn man ein komplettes System in die Public Cloud hebt und parallel neue KI-Funktionalitäten aufbaut“, erzählt Nowicki. Der Einstieg erfolgte klassisch über Infrastruktur und Migration – doch mit dem KI-Boom wandelte sich seine Rolle schnell.

Gemeinsam mit Microsoft entwickelte er innerhalb weniger Tage den ersten Prototyp der heute produktiv eingesetzten Smart Search – ein Retriever-Augmented-Generation-System (RAG), das redaktionelle Inhalte semantisch auswertet und Nutzerfragen intelligent beantwortet. „Da habe ich gemerkt, wie viel Infrastruktur eigentlich KI ist“, sagt er. Aus dieser Erkenntnis entstand schließlich ein eigenes KI-Team.

Die KI-Strategie des Handelsblatts: Produkte veredeln, nicht ersetzen

Viele Unternehmen starten ihre KI-Reise aus Effizienzgründen. Beim Handelsblatt stehen jedoch die Leser:innen im Fokus:

Wie kann KI ein journalistisches Produkt wertvoller machen?
Wie verbessert sie das Nutzererlebnis?
Wie wird das Abo attraktiver – besonders für professionelle Entscheider:innen?

Nowicki bringt es auf den Punkt:

„KI definiert nicht unsere Produkte. Aber sie verändert, wie wir Produkte bauen.“

Dabei gilt ein zentraler Grundsatz: Keine KI-generierten Artikel.
KI unterstützt bei Recherche, Analyse und Produktion – aber der Inhalt bleibt journalistisch erstellt und geprüft.

Smart Search: Von Volltext zu echter Bedeutung

Der erste große Meilenstein war die Einführung der neuen, vollständig semantischen Suche. Vorher basierte die Suche auf klassischen Volltext-Annotationen. Heute erkennt das System Bedeutungen im Kontext – durch Vektordatenbanken, Embeddings und semantische Similarity Scores.

Das Ergebnis:

  • deutlich relevantere Suchtreffer

  • steigende Nutzungszahlen

  • positive Rückmeldungen aus Redaktion und Leserschaft

Ein besonderes Learning: Nutzer fanden zuvor Inhalte oft eher über Google als über die interne Suche. Das hat sich vollständig gedreht.

Text-to-Speech: Jeder Artikel als hochwertiges Audio

Ein weiteres Projekt, das große Reichweite entfaltet, ist die automatische Vertonung aller Artikel.

Statt auf generische Browser-Vorlesefunktionen zu setzen, baute das Handelsblatt ein eigenes System – gemeinsam mit dem Startup AudioStack.

Heute werden Artikel:

  • automatisch nach Veröffentlichung vertont

  • klanglich optimiert

  • komprimiert ausgeliefert

  • auf Web und in Apps verfügbar gemacht

Die Nutzung ist hoch. „Viele Leser hören lieber, als zu lesen“, sagt Nowicki – ein Trend, den die Medienbranche zunehmend spürt.

Build or Buy? Wie das Handelsblatt entscheidet

Nicht jedes KI-System baut die Redaktion selbst. Die Kriterien:

  1. Kompetenz – kann das Team es realistisch stemmen?

  2. Geschwindigkeit – lässt es sich in marktkonformer Zeit bauen?

  3. Wirtschaftlichkeit – lohnt sich eigenes Training gegenüber SaaS?

  4. Qualität – gibt es Anbieter, die das Problem bereits besser gelöst haben?

Sprachsynthese selbst zu trainieren ist z. B. unrealistisch. „Wenn OpenAI ein AKW für sechs Wochen mietet, um ein Modell zu trainieren – so etwas können wir nicht.“

Daher gilt: SaaS first. Wenn das Produkt später sinnvoll internisiert werden kann, bleibt die Option offen.

Keine Halluzinationen: KI mit Qualitäts-Gates

Da journalistische Integrität zentral ist, hat das Handelsblatt umfangreiche Sicherheitsschichten eingebaut.

Beispielsweise:

  • Semantik-Schwellenwerte: Nur Inhalte, die nahe genug am Nutzerkontext liegen, werden berücksichtigt.

  • Hausinterne Relevanzvektoren: Artikel der Redaktion werden priorisiert – Agenturmaterial fließt nur strukturiert ein.

  • Multimodale Validierung: Ein zweites LLM überprüft, ob die Antwort inhaltlich begründbar ist.

  • „Keine Antwort“ als valide Antwort: Wenn keine passende Quelle existiert.

Der Anspruch: Null Halluzinationen.

Interne Herausforderungen: Erwartungen, Missverständnisse, Architektur

Nowicki benennt drei wiederkehrende Themen:

1. Erwartungsmanagement

KI kann viel – aber nicht alles.
„Man darf es nicht überverkaufen“, sagt er.

2. Redaktion früh involvieren

Data Stewards testen neue Systeme fachlich.
Was nicht plausibel ist, wird sofort gefiltert.

3. Technische Architektur

Eine durchdachte Pub/Sub-Struktur ermöglicht Wiederverwendung, Skalierbarkeit und schnelle Implementationen neuer KI-Features.

Wie Erfolg gemessen wird

Das Handelsblatt misst KI-Features streng datenbasiert:

  • Klickverhalten

  • Nutzung der Smart Search

  • Verweildauer

  • Scrolltiefe

  • Nutzung von Audio

  • In-Product-Feedback

Ein zentrales Learning: Ein Großteil der Nutzer klickt Inhalte direkt aus der Smart Search heraus an – ein starkes Engagement-Signal.

Die Zukunft: Das Handelsblatt als KI-gestütztes Medienhaus

Für die nächsten Jahre sieht Nowicki große Chancen:

  • KI-gestützte Analyse von Finanzdaten

  • automatische Indikatoren für Unternehmensrisiken

  • datengetriebener Journalismus

  • intelligente Verlinkungen in Artikeln

  • Sentiment-Analysen

  • kontextbasiertes Story-Scouting

Langfristig, so seine Vision:

„Jedes Unternehmen wird zur API. Und wir müssen den Überblick behalten.“

Die Wunsch-Schlagzeile für 2030

Zum Abschluss fragt Hahnenkamp:
Welche Überschrift würdest du gerne in fünf Jahren über KI im Handelsblatt lesen?

Nowicki lacht – und antwortet:

„Dass wir weiterhin das Leitmedium für Finanzen und Wirtschaft sind.
Und vielleicht irgendwann auch das Leitmedium für KI.“