
Wie das Handelsblatt KI baut ohne seine journalistische DNA zu verlieren - mit Thomas Nowicki
Künstliche Intelligenz verändert die Medienbranche – aber nicht überall gleich. Während manche Redaktionen bereits ganze Artikel automatisiert generieren lassen, verfolgt das Handelsblatt einen anderen, bewusst kontrollierten Weg. Im Gespräch mit Maximilian Hahnenkamp, Co-Founder von Scavenger AI, erklärt Thomas Nowicki, Leiter Cloud & KI der Handelsblatt Media Group, wie das Unternehmen KI in Infrastruktur, Produkte und redaktionelle Prozesse integriert – ohne die journalistische DNA aufs Spiel zu setzen.
Vom Cloud-Builder zum KI-Orchestrator
Als Thomas Nowicki vom Beratungshaus Accenture ins Handelsblatt wechselte, erwartete ihn eine besondere Herausforderung: ein hochreguliertes, historisch gewachsenes Medienhaus technologisch in die Zukunft zu führen.
„Ich wollte sehen, was passiert, wenn man ein komplettes System in die Public Cloud hebt und parallel neue KI-Funktionalitäten aufbaut“, erzählt Nowicki. Der Einstieg erfolgte klassisch über Infrastruktur und Migration – doch mit dem KI-Boom wandelte sich seine Rolle schnell.
Gemeinsam mit Microsoft entwickelte er innerhalb weniger Tage den ersten Prototyp der heute produktiv eingesetzten Smart Search – ein Retriever-Augmented-Generation-System (RAG), das redaktionelle Inhalte semantisch auswertet und Nutzerfragen intelligent beantwortet. „Da habe ich gemerkt, wie viel Infrastruktur eigentlich KI ist“, sagt er. Aus dieser Erkenntnis entstand schließlich ein eigenes KI-Team.
Die KI-Strategie des Handelsblatts: Produkte veredeln, nicht ersetzen
Viele Unternehmen starten ihre KI-Reise aus Effizienzgründen. Beim Handelsblatt stehen jedoch die Leser:innen im Fokus:
Wie kann KI ein journalistisches Produkt wertvoller machen?
Wie verbessert sie das Nutzererlebnis?
Wie wird das Abo attraktiver – besonders für professionelle Entscheider:innen?
Nowicki bringt es auf den Punkt:
„KI definiert nicht unsere Produkte. Aber sie verändert, wie wir Produkte bauen.“
Dabei gilt ein zentraler Grundsatz: Keine KI-generierten Artikel.
KI unterstützt bei Recherche, Analyse und Produktion – aber der Inhalt bleibt journalistisch erstellt und geprüft.
Smart Search: Von Volltext zu echter Bedeutung
Der erste große Meilenstein war die Einführung der neuen, vollständig semantischen Suche. Vorher basierte die Suche auf klassischen Volltext-Annotationen. Heute erkennt das System Bedeutungen im Kontext – durch Vektordatenbanken, Embeddings und semantische Similarity Scores.
Das Ergebnis:
deutlich relevantere Suchtreffer
steigende Nutzungszahlen
positive Rückmeldungen aus Redaktion und Leserschaft
Ein besonderes Learning: Nutzer fanden zuvor Inhalte oft eher über Google als über die interne Suche. Das hat sich vollständig gedreht.
Text-to-Speech: Jeder Artikel als hochwertiges Audio
Ein weiteres Projekt, das große Reichweite entfaltet, ist die automatische Vertonung aller Artikel.
Statt auf generische Browser-Vorlesefunktionen zu setzen, baute das Handelsblatt ein eigenes System – gemeinsam mit dem Startup AudioStack.
Heute werden Artikel:
automatisch nach Veröffentlichung vertont
klanglich optimiert
komprimiert ausgeliefert
auf Web und in Apps verfügbar gemacht
Die Nutzung ist hoch. „Viele Leser hören lieber, als zu lesen“, sagt Nowicki – ein Trend, den die Medienbranche zunehmend spürt.
Build or Buy? Wie das Handelsblatt entscheidet
Nicht jedes KI-System baut die Redaktion selbst. Die Kriterien:
Kompetenz – kann das Team es realistisch stemmen?
Geschwindigkeit – lässt es sich in marktkonformer Zeit bauen?
Wirtschaftlichkeit – lohnt sich eigenes Training gegenüber SaaS?
Qualität – gibt es Anbieter, die das Problem bereits besser gelöst haben?
Sprachsynthese selbst zu trainieren ist z. B. unrealistisch. „Wenn OpenAI ein AKW für sechs Wochen mietet, um ein Modell zu trainieren – so etwas können wir nicht.“
Daher gilt: SaaS first. Wenn das Produkt später sinnvoll internisiert werden kann, bleibt die Option offen.
Keine Halluzinationen: KI mit Qualitäts-Gates
Da journalistische Integrität zentral ist, hat das Handelsblatt umfangreiche Sicherheitsschichten eingebaut.
Beispielsweise:
Semantik-Schwellenwerte: Nur Inhalte, die nahe genug am Nutzerkontext liegen, werden berücksichtigt.
Hausinterne Relevanzvektoren: Artikel der Redaktion werden priorisiert – Agenturmaterial fließt nur strukturiert ein.
Multimodale Validierung: Ein zweites LLM überprüft, ob die Antwort inhaltlich begründbar ist.
„Keine Antwort“ als valide Antwort: Wenn keine passende Quelle existiert.
Der Anspruch: Null Halluzinationen.
Interne Herausforderungen: Erwartungen, Missverständnisse, Architektur
Nowicki benennt drei wiederkehrende Themen:
1. Erwartungsmanagement
KI kann viel – aber nicht alles.
„Man darf es nicht überverkaufen“, sagt er.
2. Redaktion früh involvieren
Data Stewards testen neue Systeme fachlich.
Was nicht plausibel ist, wird sofort gefiltert.
3. Technische Architektur
Eine durchdachte Pub/Sub-Struktur ermöglicht Wiederverwendung, Skalierbarkeit und schnelle Implementationen neuer KI-Features.
Wie Erfolg gemessen wird
Das Handelsblatt misst KI-Features streng datenbasiert:
Klickverhalten
Nutzung der Smart Search
Verweildauer
Scrolltiefe
Nutzung von Audio
In-Product-Feedback
Ein zentrales Learning: Ein Großteil der Nutzer klickt Inhalte direkt aus der Smart Search heraus an – ein starkes Engagement-Signal.
Die Zukunft: Das Handelsblatt als KI-gestütztes Medienhaus
Für die nächsten Jahre sieht Nowicki große Chancen:
KI-gestützte Analyse von Finanzdaten
automatische Indikatoren für Unternehmensrisiken
datengetriebener Journalismus
intelligente Verlinkungen in Artikeln
Sentiment-Analysen
kontextbasiertes Story-Scouting
Langfristig, so seine Vision:
„Jedes Unternehmen wird zur API. Und wir müssen den Überblick behalten.“
Die Wunsch-Schlagzeile für 2030
Zum Abschluss fragt Hahnenkamp:
Welche Überschrift würdest du gerne in fünf Jahren über KI im Handelsblatt lesen?
Nowicki lacht – und antwortet:
„Dass wir weiterhin das Leitmedium für Finanzen und Wirtschaft sind.
Und vielleicht irgendwann auch das Leitmedium für KI.“